Zehn Dolchstiche gegen die Politik

Politik ist die Kunst der Separation. Da, wo das Leben seine Fülle verloren hat, wo das Denken und Handeln der Individuen unterteilt, katalogisiert und in separierten Sphären eingeschlossen wird, da beginnt die Politik. Indem sie gewisse Aktivitäten (die Diskussion, der Konflikt, die gemeinsame Entscheidung, die Abmachung) von den Individuen in eine Zone entfernt, die sie regieren will, ist die Politik, aufgrund ihrer Unabhängigkeit, gleichzeitig eine Separation unter den Separationen und hierarchische Verwaltung dieser Trennung. Sie erweist sich also als eine Spezialisierung, die gezwungen ist, das anstehende Problem ihrer Funktion in eine notwendige Voraussetzung zu verwandeln, dazu bestimmt alle Probleme zu lösen. Genau darum ist die Rolle der professionellen Politiker indiskutabel – und das einzige was man machen kann, ist sie zu ersetzen, sie gelegentlich auszuwechseln. Jedes mal, wenn die Subversiven die Separation der verschiedenen Momente des Lebens akzeptieren, und die gegebenen Verhältnisse, ausgehend von dieser Separation, verändern wollen, werden sie zu den besten Verbündeten dieser Weltordnung. Und gerade weil sie danach strebt, eine Grundbedingung des Lebens selbst zu sein, flösst die Politik überall ihren tödlichen Atem ein.

Politik ist die Kunst der Repräsentation. Um die dem Leben zugefügten Verstümmelungen zu regieren, zwingt sie die Individuen in die Passivität, in die verantwortungslose Delegation der eigenen Entscheidungen, in die blosse Kontemplation des Spektakels, das die eigene Unmöglichkeit zu Handeln in Szene setzt. Also, während die Individuen den Willen aufgeben sich selbst zu bestimmen und sich in blinde Anhängsel der staatlichen Maschinerie verwandeln, setzt die Politik die Gesamtheit der Fragmente in einer falschen Einheit wieder zusammen. Macht und Ideologie feiern ihre unheilvolle Vermählung. Da die Repräsentation, das ist, was den Individuen ihre Handlungsfähigkeit entreisst, bietet sie als Ausgleich die Illusion Teilnehmer zu sein und nicht bloss Zuschauer. Diese Dimension der Politik spiegelt sich überall da wieder, wo eine beliebige Organisation die Individuen verdrängt, und ein beliebiges Programm sie in ihrer Passivität gefangen hält. Sie spiegelt sich überall da wieder, wo eine Ideologie jenes vereint, was sich im Leben gegenüber steht.

Politik ist die Kunst der Mediation. Zwischen der vorausgesetzten Totalität und der Singularität, sowie zwischen den Individuen. Genauso wie der Wille Gottes seine eigenen irdischen Interpreten und Repräsentanten verlangt, so bedarf auch die Gemeinschaft ihrer eigenen Delegierten. Genauso wie in der Religion keine Beziehungen zwischen Menschen existieren, sondern zwischen Gläubigen, sind es auch nicht die Individuen, die sich in der Politik begegnen, sondern die Bürger. Die Fesseln der Zugehörigkeit verhindern die Vereinigung, denn nur durch die Verschiedenheit wird die Separation aufgehoben. Die Politik behandelt uns gleich, weil es in Knechtschaft keine Unterschiede gibt – Gleichheit vor Gott, Gleichheit vor dem Gesetz. An der Stelle des direkten Dialoges, der der Mediation entgeht und daher die Macht negiert, errichtet die Politik ihre Ideologie. Der Rassismus ist die Zugehörigkeit, die direkte Verbindungen zwischen den Individuen verhindert. Jede Politik ist partizipative Simulation. Jede Politik ist rassistisch. Nur wenn wir diese Schranken durch die Revolte zerstören, können wir einander als Singularitäten begegnen. Ich revoltiere, also sind wir. Doch wenn Wir sind, adieu Revolte.

Politik ist die Kunst des Unpersönlichen. Jede Handlung ist einmalig und besonders. Jede Gelegenheit könnte der Moment eines Funkens sein, der der Ordnung des Vagen entflieht. Die Politik ist die Verwaltung dieser Ordnung. «Welchen Sinn soll schon eine Handlung haben angesichts der Komplexität dieser Welt?» So argumentieren die Schlafenden mit der doppelten Schläfrigkeit eines Wenn nur, das niemand ist und eines Später, das niemals kommt. Die Bürokratie, treue Dienerin der Politik, verwaltet das Nichts, damit niemand mehr zu handeln vermag. Damit nie wieder jemand seine Verantwortung in der generalisierten Verantwortungslosigkeit wiedererkennt. Die Macht behauptet nicht mehr, dass alles unter Kontrolle sei, im Gegenteil, sie sagt: «Wenn es selbst mir nicht gelingt eine Lösung zu finden, dann stellt euch mal jemand anderes vor.» Die demokratische Politik basiert fortan auf der katastrophalen Ideologie der Dringlichkeit («uns oder den Faschismus, uns oder den Terrorismus, uns oder das Unbekannte»). Das Ungewisse, auch das antagonistische, ist ein abstraktes Ereignis, ein Ereignis, das nie eintrifft und das alles Gegenwärtige auflöst. Die Politik lädt jeden zur Teilnahme ein, an diesem Spektakel der Bewegung im Stillstand.

Politik ist die Kunst der Vertagung. Da ihre Zeit stets die Zukunft ist, hält sie uns alle in einer mieserablen Gegenwart gefangen. Alle zusammen, aber Morgen. Doch derjenige, der sagt: «Ich und jetzt» ruiniert, mit dieser Ungeduld, dieser Überschwenglichkeit an Begierde, die Ordnung des Wartens. Warten auf Irgendetwas, das aus dieser Verdammung des Partikulären führt. Warten auf eine Gruppe, in der man nicht seine eigenen Entscheidungen in Gefahr bringt, in der man seine eigene Verantwortung verstecken kann. Warten auf ein angemessenes quantitatives Wachstum. Warten auf messbare Resultate. Warten auf den Tod. Die Politik ist der permanente Versuch, das Abenteuer in die Zukunft zu versetzen. Doch nur wenn «Ich und jetzt» entscheidet, kann es ein Wir geben, das der gegenseitigen Verleugnung keinen Platz einräumt, jener Lüge, die den einen zum Kontrolleur des Anderen macht. Wer unmittelbar handeln will, wird immer gleich als verdächtig betrachtet. Wenn das kein Provokateur ist, sagt man, so sieht er zumindest so aus. Doch es ist der Moment einer Handlung, die unaufschiebbare Freude, die uns zum nächsten Morgen trägt. Ohne fixierten Blick auf die Zeiger der Uhr.

Politik ist die Kunst des Kompromisses. Jeden Tag darauf wartend, dass die Verhältnisse günstig sind, endet man eines Tages in Allianz mit den Wächtern des Wartens. Schlussendlich bietet der Verstand, das Instrument der Aufteilung und Vertagung, jeden Tag eine gute Rechtfertigung um sich zu einigen, um den Schaden zu limitieren, um einige Details eines Ganzen zu retten, das man verachtet. Der politische Verstand hat durchdringende Augen, wenn es darum geht Allianzen aufzuspüren. Man kann nicht alles auf dieselbe Ebene setzen, sagt man uns. Rifondazione Comunista ist bestimmt nicht wie diese kriecherische und gefährliche Rechte (Wir wählen sie zwar nicht – wir enthalten uns doch bei Wahlen –, aber die Bürgerkomitees, die Initiativen auf der Strasse, das ist etwas Anderes). Das staatliche Gesundheitswesen ist noch immer besser als private Versorgung. Ein garantierter Minimallohn ist noch immer der Arbeitslosigkeit vorzuziehen. Die Politik ist die Welt des weniger Schlimmen. Und während man sich mit dem geringeren Übel abfindet, akzeptiert man Stück für Stück das Ganze, in einer Umgebung, die uns nur noch Vorlieben gewährt. Derjenige dagegen, der von diesem geringeren Übel nichts wissen will, ist ein Abenteurer. Oder ein Aristokrat.

Politik ist die Kunst der Berechnung. Damit die Allianzen profitabel sind, ist es nötig, sich die Geheimnisse seiner Verbündeten anzueignen. Die politische Berechnung ist das erste der Geheimnisse. Man muss wissen, worauf man sich einlässt. Man erstellt detaillierte Listen der Anstrengungen und der erreichten Resultate. Und durch unermüdliches Bemessen dessen was man hat, hat man schluss­endlich alles erreicht, ausser dem Willen, dies aufs Spiel zu setzen und zu verlieren. Man ist sparsam, aufmerksam und bereit, die Rechnung zu präsentieren. Das Auge stehts auf das fixiert, was uns umgibt, vergisst man niemals sich selbst. Wachsam wie Polizisten.
Wenn die Liebe zu sich selbst überläuft, drängt sie danach verbreitet zu werden. Und diese Überfülle an Leben macht, dass wir uns vergessen, dass wir das Rechnen verlieren, in der Spannung der Eigendynamik. Doch sich selbst zu vergessen, ist das Verlangen nach einer Welt, wo es die Mühe wert ist, sich selbst zu verlieren, einer Welt, die unser Vergessen verdient. Aus diesem Grund muss diese Welt, so wie sie ist, verwaltet von Wärtern und Buchhaltern, zerstört werden – Damit wir uns ausgeben können, ohne zu berechnen. Denn hier beginnt der Aufstand. Die Berechnung hinter sich lassen, doch nicht durch den Verzicht (wie es derjenige Humanitarismus rät, der doch immer wieder damit endet, mit den Henkern im Bunde zu gehen), sondern durch den Exzess. Denn hier endet die Politik.

Politik ist die Kunst der Kontrolle. Damit sich die menschliche Aktivität nicht der Fesseln von Arbeit und Pflicht entledigt, und ihr ganzes Potenzial entfaltet. Damit die Arbeiter sich nicht als Indivi-duen begegnen und sich ihrer Ausbeutung nicht widersetzen. Damit die Studenten nicht die Schulen niederreissen, um selbst zu wählen, wie, wann und was sie lernen wollen. Damit die Familienmitglieder sich nicht ineinander verlieben, und nicht aufhöhren die kleinen Diener eines kleinen Staates zu sein. Damit die Kinder nichts anderes als eine unvollständige Kopie der Erwachsenen sind. Damit man die Unterscheidung zwischen guten (Anarchisten) und bösen (Anarchisten) nicht aufhebt. Damit die Beziehungen nicht zwischen den Individuen entstehen, sondern zwischen Waren. Damit man sich der Authorität nicht entzieht. Damit man, falls irgendjemand die staatlichen Strukturen angreift, sich beeilt zu sagen: «Das ist nicht das Werk unserer Leute.» Damit die Banken, Gerichte und Kasernen nicht in die Luft fliegen. In einem Wort: damit das Leben nicht stattfindet.

Politik ist die Kunst der Rekuperation. Die effizienteste Methode um jegliche Rebellion, jeglichen Wunsch nach wirklicher Veränderung zu entmutigen, ist den Staatsmann als Subversiven auszugeben, oder noch besser, den Subversiven in einen Staatsman zu verwandeln. Nicht alle Staatsmänner sind von der Regierung bezahlt. Es existieren Funktio­näre, die nicht im Parlament sitzen und noch weniger in dessen Nebenzimmern; im Gegenteil, sie besuchen die sozialen Zentren und kennen insgeheim die revolutionären Hauptthesen. Sie berichten ausführlich über das befreiende Potential der Technologie, sie theoretisieren nicht-staatliche Sphären der Öffentlichkeit und die Überwindung des Subjekts. Die Realität – das wissen sie gut – ist immer komplexer als irgendwelche Aktion. Wenn sie also eine totale Theorie entwerfen, ist das nur, um sie im Alltag völlig zu vergessen. Die Macht benötigt sie – wie sie es selbst uns beibringen –, denn wenn keine Kritik an der Macht ausgeübt wird, wird die Macht als solche kritisiert.

Politik ist die Kunst der Repression. Gegen jene, die ihr Leben nicht in verschiedene Momente aufteilen, und die gegebenen Verhältnisse verändern wollen, aufgrund der Gesamtheit ihrer eigenen Träume. Gegen jene, die die Passivität durchbrechen wollen, die Kontemplation und die Delegation. Gegen jene, die sich weder irgendeiner Organisation unterwerfen, noch sich blockieren lassen durch irgend ein Programm. Gegen jene, die unmittelbaren Austausch zwischen den Individuen wollen, und die Differenz als den Raum für die Gleichheit behandeln. Gegen jene, die kein Wir besitzen, auf das sie schwören. Gegen jene, die die Ordnung des Wartens angreifen und sich jetzt widersetzen wollen, nicht Morgen oder Übermorgen. Gegen jene, die sich hingeben, ohne Gegenleistung, und sich im Exzess verlieren. Gegen jene, die ihre Gefährten verteidigen mit Liebe und Bestimmtheit. Gegen jene, die den Rekuperateuren nur eine Möglichkeit lassen: Die des Verschwindens. Gegen jene, die sich weigern Platz zu nehmen in dem Gewimmel von Betrügern und Schlafenden. Gegen jene, die weder Regieren noch Kontrollieren wollen. Gegen jene, die die Zukunft in ein faszinierendes Abenteuer verwandeln wollen.

Übersetzt aus Il Pugnale, anarchistische Zeitschrift in einmaliger Ausgabe, Italien, Mai 1996


Im Moment glaubt sie an gar nichts, diese kleine, sehr müde Stadt. Ihre Bewohner schlafen schlecht, arbeiten mit schlechter Stimmung, gehen manchmal ins Kino oder in eine Bar. Sie lesen Zeitungen die, mit ihren grossen sensationellen Titeln über den letzten ungeklärten Mordfall, ihrer Angst vor jeder anderen Analyse als der von Boxkämpfen und kriminalistischen Rätseln, genauso wie mit ihren intellektuellen Verwirrungen, für müde Leute gemacht sind, die nicht die Kraft haben, mehr zu geniessen, als gut temparierte Emotionen. Man muss sich hüten, hier nach dem «typisch Französischen» zu suchen, denn man trifft sie überall, diese Art von armseligen, unzufriedenen und nervösen Menschen, sowie diese Form von permanentem Winterschlaf, der die tragische Lebensweise des armen zerrissenen Europäers der Nachkriegs-Zeit ausmacht.

Stig Dagerman, Une petite cité aux habitants fatigué,14 april 1948


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