Severino Di Giovanni, 1901 in Chieti (Italien) geboren, emigrierte 1923, kurz nach der faschistischen Machtergreiffung in seinem Heimatland, nach Buenos Aires. Sein kurzes Leben war von einer ununterbrochenen Agitation geprägt, von den Zeitschriften, die er ins Leben rief (Culmine, Anarchia) oder wofür er Artikel schrieb (L’Adunata dei Refrattari), bis zu den Flugblättern, Brochüren und Büchern die er unablässig publizierte. Aber auch von einer ganzen Serie von Enteignungen und diffusen Aktionen und nicht zu vergessen die Versuche gefangenen Gefährten zur Flucht zu verhelfen. Seine explosiven Angriffe richteten sich hauptsächlich gegen die italienischen Interessen (vom Konsulat bis zu Wohnungen oder Geschäften von Faschisten, die sich in Argentinien niedergelassen haben), aber auch gegen die amerikanischen, während der internationalen Kampagne, um Sacco und Vanzetti vor dem elektrischen Stuhl zu bewahren. Am 29. Januar 1931 wird er verhaftet, nachdem er auf der Flucht einen letzten Bullen getötet und einen weiteren verletzt hat. Drei Tage später wird er erschossen (einem seiner argentinischen Freunde und Gefährten, Paulino Scarfo, widerfährt am Tag darauf dasselbe Schicksal).
Ende 1926/Anfang 1927, zur Zeit dieser beiden hier vereinigten Texte von Di Giovanni, stellte sich die Frage des bewaffneten Kampfes gegen den italienischen Faschismus, neben Anarchisten und einigen seltenen anderen Revolutionären, nur für sehr wenige Menschen.
Erinnern wir uns zum Beispiel daran, dass sich die Kommunistische Partei Italiens den Arditi del Popolo entgegenstellte, die 1921/22 in mehreren Städten versuchten, sich zusammen mit der Bevölkerung und mit den Waffen in den Händen gegen die wachsende Macht der Faschisten zu wehren. Was die sozialistischen Führer angeht: die selben, die dazu beitrugen, ab 1915 tausende Proletarier ins Massaker zu schicken, unterzeichneten im August 1921, auf dem Rücken der selben Arditi, ein Nichtangriffspakt mit ihren faschistischen Amtskollegen. Lasst uns schliesslich klar stellen, dass Togliatti, der nach Moskau geflüchtete historische Führer der PCI, im Namen seiner Partei die These verteidigte, die Strukturen des Regimes langsam zu infiltrieren, anstatt diese anzugreiffen. Im August 1936 publizierte er sogar einen Aufruf an die Faschisten, um ihnen eine Allianz vorzuschlagen.
Unser Antifaschismus
Die antifaschistische « Armee » wächst erschreckend an. Sie schwillt an wie eine trübe Schlammflut, die all die Überreste des Sturmes mit sich reisst, all den Ausschuss des diktatorischen Regimes (Sala, Fasciolo, Bazzi, Rossi, Rocca 1), diesen düsteren Haufen von Abenteurern.
Ricciotti Garibaldi, Raimondo Sala und andere berühmte, etwas verhülltere Personen (wozu auch die Brüder Ezio und Peppino Garibaldi gezählt werden sollten, und sei es nur, um dieses Geschlecht von Verrätern nicht zu leugnen, die der Sohn des seit kurzer Zeit verschwundenen Helden der beiden Welten 2 so gut zeugte) sind dabei, den selben schändlichen Verrat über uns ergehen zu lassen, den sie so gut unter dem roten Hemd verhüllten.
Wer kann uns schliesslich versichern, dass morgen nicht irgendein Ex-Faschist, trotz der lächerlichen Massnahmen, die der Infantilismus des Duce lancierte, zurückkehrt, um den Rängen der Totenköpfe wieder beizutreten, um sich noch einmal in den Dienst des Juge Iscariote [Mussolini] zu stellen? Können wir unser Vertrauen eines Tages einem Massimo Rocca 3 zurückgeben, aufgrund der schlichten Tatsache, dass er die am meisten anklagenden Texte gegen den Führer der Schwarzhemden geschrieben hat?
Können wir wieder Vertrauen aufbauen gegenüber so viel verkörperter Schändlichkeit? Gegenüber Menschen, die geboren sind, um zu verraten, uns genauso wie die Faschisten? Gegenüber Menschen die den Auftragsmördern halfen ihre Waffen zu schleiffen? Ich glaube nicht!
Unser Leidensweg ist sehr schwer gewesen, zu oft haben wir unser Vertrauen schon in die Hände des erst besten Abenteurers gelegt, als dass wir noch einmal die selben Fehler begehen und erneut falschen Idolen vertrauen würden.
Wir müssen diese Elendigen weit von uns stossen. Diese Alchemisten der Aufrichtigkeit anderer sind einzig der faulsten Affären würdig; diese Schurken, die noch immer im Blut der Opfer baden, einem Blut, das sie entlang des Weges, den sie begingen, im Überfluss vergossen haben.
Wir müssen uns selbst bleiben – ohne die rote Tscheka und ohne die schwarze Tscheka, ohne Fasciolo und ohne Rossi, und ohne die pseudo-revolutionäre Politikerbande – uns selbst sein, Anarchisten aus Überzeugung, Anarchisten in Überzeugung, Anarchisten mit Überzeugung.
Was die anderen betrifft: Genausogut wie sie sich heute in dem Schmelztiegel aller Niederträchtigkeit ergötzen können und sie sich heute selbst als Antifaschisten bezeichnen, um sich einen grösseren Anteil vom Erbe zu sichern, wenn der Faschismus stirbt, können sie morgen, wenn sie endlich am Hebel sitzen, ihrerseits eine andere faschistische Politik führen.
Wir können sie nicht davon abhalten, sich Antifaschisten zu nennen. Dass sie sich erregen, dass sie sich küssen, dass sie sich Lieben, und dass sie sich umschlingen, gewiss, aber nur unter sich. Ohne uns mit diesem Wort anzustecken oder zu imitieren: Antifaschismus, ein Wort, das für uns einen Sinn enthält, der revolutionärer, erhabener und aufständischer ist.
Mit ihnen – genauso wie mit den Faschisten – wird es niemals eine Versöhnung geben können. Auf gleiche Weise wie die Heerscharen des Totenkopfes von heute, sind sie gestern (ja, sie, die heutigen Antifaschisten, die Opponenten und politischen Flüchtlinge, sie, die in dem übel riechenden Sumpf der vorhergehenden Periode vor sich hin gelebt haben) Zuhälter gewesen, sie lebten in den Kulissen des Viminale 4 oder in den Kammern des Parlaments, während sie das Regime und seine Schandtaten guthiessen oder unterstützten.
Wir müssen fern von ihnen bleiben und gleichermassen jeglichen Kontakt mit irgendwelchen Abenteurern verweigern, denn sie können von einem Moment auf den anderen zu den schlimmsten unserer hinterhältigen Gegner werden, zu den abscheulichsten Giftspeiern, wie Schlangen, die kommen, um sich in unserem Schosse zu nesteln und uns anschliessend mit ihrem tödlichen Biss verwunden.
Unsere Tatkraft, eine überschwängliche Lebenskraft, eine endlose Hartnäckigkeit, äusserster Heldenmut und eine Aufopferung die sich jenseits des Ruhms erhebt, sind das uneinnehmbare Fundament, worauf wir zählen können, ohne irgendetwas oder irgendjemanden zu benötigen, um die letzte Schlacht zu liefern, die wir gegen den Faschismus aufgenommen haben.
Lasst uns dem Plebs – wovon wir der rebellierende Teil sind – den Mut und das Vertrauen geben, lasst uns aus Eisen sein, vor unserem Bewusstsein als Akraten, lasst uns keinen Daumenbreit von dem Fundament unserer Ideen zurückweichen und die schönsten Siege werden unser eifriges Agitationswerk krönen.
Frei, ohne den unflätigen Spott von unreinen Kontakten, stets auf der Hut bleibend vor dem Faschismus und vor dem Gelegenheits-Anti-Faschismus.
Wie kämpfen?
Man darf sich über die Fähigkeiten des Faschismus keine Illusionen machen. Von Aussen könnte ihn der erste Zusammenprall mit einem kriegfertigen Gegner zum Einsturz bringen, denn ein grosser Teil der von ihm versammelten ÅeHeldenÅf, sind entweder die Hinterhältigen des letzten Krieges, oder die ÅeWackerenÅf, die es gewohnt sind gegen unbewaffnete Feinde zu kämpfen; von Innen jedoch stürtzt er sich auf eine starke Polizei- und Militärstruktur.
Was die grossen Volks- und Proletariermassen angeht: sie sind noch zu terrorisiert und zu erniedrigt, sie spühren noch zu verbittert den vergangenen und den kommenden Verrat, um auf den ersten aufständischen Aufruf antworten zu können. Die letzten repressiven Gesetze und die „AusgangssperreÅg haben den aktiven und sinnvollen Widerstand noch einmal mehr geschwächt. Daraus folgt, dass es übermütig wäre, bereits heute einen frontalen Ansturm lancieren zu wollen, und dass dies in einem dieser Massaker enden könnte, wodurch der Faschismus hofft, endlich die Absicherung seiner Macht zu vollenden.
Andererseits kann alleine die Aktiongegen den Faschismus helfen. Wir müssen handeln um ihn zu beseitigen, indem wir nach den Bedingungen einer Abbröckelung suchen, die generelle Bewegungen auf einer grösseren Ebene möglich macht.
An all jene, die dem Feind zusetzen wollen bis zum letzten Atemzug, schlagen wir, in Italien und sonstwo, eine autonome und verstreut angeordnete Guerilla vor, bestehend aus kleinen Einheiten, die schwieriger erreichbar und identifizierbar sind.
Dass sich also in den verschiedenen Milieues und den verschiedenen Kreisen auf wenige Personen beschränkte Komitees oder Aktionsgruppen bilden.
Das heisst nicht, das jede Gruppe notwendigergewaltsame Aktionen durchführen muss; dass hingegen jeder Aktionen durchführt, die den Feind in Abhängigkeit der jeweiligen Haltungen, Kapazitäten und Mitteln einer bestimmten auf Affinität und gegenseitigem Vertrauen basierenden Gruppe verwundet. Dass jede Gruppe ihren Teil Aktionen macht und zu Ende führt, ohne sich zu fragen, was die anderen Gruppen machen.
Alles auf ein und dasselbe Ziel ausgerichtet. Und da der Feind aufmerksam und hinterhältig am beobachten ist, dass jedes Kommitee und jede Aktionsgruppe seine Leute kennt und kontrolliert.
Zu viele Abtrünnige aller Parteien – gestern vielleicht noch aufrichtig – sind für Geld zum Faschismus übergelaufen, und es ist möglich, dass dieser letztere versucht, mit zwiespältigen Elementen Komplotte und Intrige zu organisieren, um ihrerseits die Exstenz solcher Gruppen zu simulieren. Es ist also höchste Vorsicht geboten. Man muss auch die Bevölkerung warnen, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass der Faschismus, in Italien sowie anderswo durch seine Auftragsmörder bestialische und verhängTaten ausführen lässt, um sie anschliessend seinen Gegnern zuzuschieben. Bezüglich einer Absprache zwischen den verschiedenen Gruppen, auch innerhalb der selben Stadt, sind wir der Ansicht, dass das im Moment nicht drängt. Es wäre unvorsichtig und gefährlich, da es zu viele Elemente potentiellen Verrätern ausliefern würde. Falls eine breite Absprache für eine gemeinsame Aktion – und sicherlich ohne die zwiespältigen Elementen, die den Faschismus ausgebrütet haben, und am liebsten in jene Vergangenheit zurückkehren würden, die dem Faschismus ein lieblicher Vater war – zustande kommen muss, wird sie auf automatische und logische Weise heranreifen, wenn die Ereignisse heranreifen.
Gegenwärtig, um es nocheinmal zu sagen, ist es wünschenswert, dass sich die Aktionsgrupen vermehren ohne dass der Feind zur Ruhe kommt, dass sie bereit sind, die nötigen Vergeltungsmassnahmen anzugehen, doch indem sie eine autonome Aktion entwickeln.
Und wenn eine solche Aktion einen erbarmungslosen Kampf ohne Gnade entfesselt, seit nicht Bestürzt.
Der Faschismus hat es so gewollt, es muss so sein, so sei es!
Severino Di Giovanni
Il nostro antifascismo, Culmine nr. 16, 23. Dezember 1926 und Auszug aus Per une maggior lotta contro il fascismo, Culmine nr.18, 5. Februar 1927
Noten
1. Es handelt sich um Ex-Faschisten, einer abschäulicher als der andere, die aufgrund von internen Meinungsverschiedenheiten in Mussolinis Regime im Exil endeten. Raimondo Sala und Massimo Rocca waren beispielsweise Mitglieder von Italia Libera (monarchistische und nationalistische Strömung) bevor sie exilieren mussten. Bazzi und Rossi, zwei Ex-Mitglieder der Parti Fasciste, befanden sich bereits in Frankreich im Exil: Ihr Name wurde berühmt, als sie im März 1926 in Paris von Mingrino angegriffen wurden, einem Ex-Abgeordneten der Sozialisten und dem Begründer der Arditi del Popolo, der von faschistischen Diensten manipuliert wurde.
2. Giuseppe Garibaldi (1807-1882) wird, aufgrund seines bewaffneten Beitrags zur Wiedervereinigung Italiens, offiziell als einer der Väter der Nation betrachtet. Er bekam den Beinamen ’Held der zwei Welten’, für seine Kämpfe in Europa sowie auch in Südamerika (Brasilien, Uruguai, Argentinien). Sein vierter Sohn, Riciotti (1894-1924), endete, nachdem er am Kopf der gariballdistischen Legionen in Frankreich (1870) und in Griechenland (1897, 1912) gekämpft hat damit, dem Faschismus beizutreten. Einer der hier angemerkten Söhne von Ricotto, Peppino Garribaldi (1879-1950), war Söldner für zahlreiche Armeen (Britisches Weltreich gegen die südafrikanischen Buren 1903, Venezuela, Guyane, Mexiko gegen den Diktator Diaz 1910, Frankreich gegen die Deutschen 1914/15 und darauf Italien gegen Österreich 1915/18) bevor er 1922 sehr konfuse Handlungen gegen Mussolini unternahm, vorallem mit der Unterstützung von Freimaurern.
3. Massimo Rocca (1884-1973) ist ein gutes Beispiel dieser, von Di Giovanni verschmähten Personen. Nachdem er in anarchistischen Publikationen geschrieben hat, schloss er sich den Sozalisten um die Tageszeitschrift Avanti! an, worauf er Position für die Teilnahme Italiens am Krieg (ÅfInterventionismusÅf) ergreift. Rocco wechselt folglich zu der Zeitschrift die von Mussolini errichtet wurde (Popolo dÅfItalia), bevor er fortfährt, indem er einer der Gründer von Mouvement Fasciste (1919) und darauf der Parti Fasciste (1921) wird. 1923 gründet er in interner Opposition zum Faschismus die sogenannte ÅfrevisionistischeÅf Strömung, die sich den ÅfunbeugsamenÅf entgegenstellt. 1924 wird er aus der Parti Fasciste ausgeschlossen, muss sein Abgeordnetenmandat abtreten und nach Frankreich flüchten.
4. Viminale: italienischer Präsidentenpalast