Den Trugbildern entgegen

Die Reisenden, die einmal die Wüste durchquerten, kennen diese verlockenste und gefährlichste aller Illusionen: Das Trugbild. Während die Karawane unter der sengend heissen Sonne ihren Weg durch das Meer aus Sand sucht, träumen die Menschen von einer Oase, an der sie sich endlich unter dem wohltuenden Schatten der Palmen ausruhen können. Rundum gibt es nichts als Wüste und sie wissen, dass noch viele Marschstunden vor ihnen liegen, bis sie den langersehnten Rastplatz erreichen. Ihre Augen sind es müde einzig und ununterbrochen den gelben Sand und den stahlblauen Himmel zu sehen. Das Fieber überkommt sie und ihr Verlangen, Wasser und Pflanzen zu sehen und etwas Schatten zu geniessen, wächst an. So ziehen sie weiter; und plötzlich erfüllt sich das Wunder – ihr verzweifeltes Verlangen nimmt Gestalt an. Dort am Horizont zeichnet sich etwas ab. Das Meer aus Sand verschwindet und grüne blumige Wiesen erstrecken sich soweit das Auge reicht… Die verwunderten Augen der Reisenden suchen die Weite ab und dort, ganz nahe, sehen sie die ersehnte Oase. Die grossen Palmenschatten wiegen sich über die weissen Häuser, wo sie sich auffrischen und erhohlen werden. Dahinter erstreckt sich die azurblaue Fläche eines Sees. Bei Abenddämmerung werden sie an dessen Ufern das Hereinbrechen der Nacht abwarten… Und die Reisenden zeigen mit den Fingern nach den bezaubernden Palmen, den weissen Häusern, dem Azurblau des Sees. Alle sehen sie es und die Hoffnung auf baldiges Glück lässt ihre Kräfte erneut beleben.
Dennoch liegt dort vor ihnen nichts, nichts als die monotone Wüste, Sand und Himmel, Himmel und Sand… Sie werden die Oase erst später erreichen, nach tagelangen Anstrengungen vielleicht; was sie sehen, ist bloss eine Lüge, eine grobe Illusion. Doch ihr Verlangen nach Ruhe, Schatten und Frieden ist so gross, die Schönheit des Trugblides so verführerisch, dass in manchen Momenten selbst die grössten Skeptiker daran glauben…
Sie beschleunigen ihre Schritte; wenn sie könnten, würden sie rennen. Die Sonne verbrennt sie; das falbe Licht errötet ihre verwirrten Augen, der Durst hat sie überkommen – sie gehen und gehen. Die Oase nähert sich nicht: Noch immer liegt sie dort am Horizont, zauberhaft, anziehend, verheissungsvoll – verlogen. Sie gehen weiter, hartnäckig hoffend, und die unendliche Wüste verhöhnt sie. Wie viele fielen unterwegs in den brennenden Sand, entkräftet, aber noch nicht ohne Hoffnung! Wie viele sind gestorben, mit der tödlichen Illusion des Trugbildes vor ihren Augen!
Nicht selten ist es bloss das Trugbild, das sie vom rechten Weg abbringt und sie so durch den vergeblichen Marsch tötet. Oft vergessen sie für es, um seinetwillen, die Gefahren, die Schwierigkeiten, das Interesse an der Realität, und verlieren sich…
Auf die selbe Weise verleiten andere Trugbilder jene, die hier leiden, dazu, die mühsame Arbeit, das graue Leben, das Fortschreiten ohne Hoffnung zu akzeptieren. Für Trugbilder, für Illusionen, für Lügen fallen und sterben die Menschen auf allen Pfaden der Erde…

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Arme einfache Leute, die es gewohnt sind, vor dem Unbekannten zu zittern, die Stärkeren zu verehren, naiv an das Wort des Erlösers zu glauben, an die Gerechtigkeit eines Gottes, den sie nicht verstehen und an die magische Kraft der Gesetze unter denen sie ächzen.
Dies verwundert uns nicht. Dass die Massen den Drang haben, sich selbst zu täuschen, und dass eine einzige Täuschung sie zu verführen vermag, können wir verstehen. Eine gewaltige Vergangenheit hemmt sie; sie sind es gewohnt zu glauben, gewohnt zu gehorchen, gewohnt geführt zu werden. Sie leiden. Das Volk ist das Kanonenfutter des Leidens. Da sein Leben nunmal schrecklich trüb, unschön und schmerzhaft ist, ist es nunmal nötig, dass seine Fantasie unter der scheusslichen Realität, märchenhafte Hirngespinste strickt… Für jene, die zum gehen zu schwach sind, ist es nunmal nötig, sich auf einem Stock zu stützen.
Was wir weniger verstehen, ist die Macht, die die Illusion Ÿber jene GemŸter aufrechterhŠlt, die sich von den €ngsten und Pflichten der Masse befreit haben. Was wir nicht verstehen ist, dass die Menschen, die die Sinnlosigkeit und Nichtigkeit der Dogmen, den Schwindel der Doktrinen und die Vergeblichkeit der Anstrengungen der alten Parteien gesehen haben, noch immer ein Trugbild benštigen und fŸr dieses die Gegenwart, die RealitŠt und das Leben Ð diesen Schatz Ð aufopfern.
Man sollte doch meinen, dass jene, denen sich die Lüge der Religionen enthüllt hat, nicht mehr nach dem trügerischen Jenseits trachten und endlich gewillt sein müssten auf der Erde zu leben – ohne zu warten. Denn ist die Zukunft nicht ein anderer Himmel, ein anderes Trugbild? Was ist schon wirklich ausser der Gegenwart?
- Im Diesseits leben, jetzt Leben! MŸsste dies nicht die Schlussfolgerung jener sein, die nicht mehr an einen Gott glauben, an einen Schšpfer und Spender Ÿberirdischer GlŸckseligkeit?
Aber nein. Das ist schon zuviel verlangt von den Menschen, auf die die alten Trugbilder noch nicht völlig einzuwirken aufgehöhrt haben. Jahrhunderte lebten sie mit nichts als dem grossen christlichen Traum vor ihren Augen. Nun, da sie ihn zugrunde gehen sahen, brauchen sie dafür einen anderen. Sie warten nicht mehr auf all dies, weder auf den Messias, noch auf das himmlische Königreich; und einige von ihnen lachen über die «unbewusste» Masse, die noch immer darauf wartet. Sie sagen, es sei Schwindel, ein alter Fehler, eine Alberei… – Aber sie, sie warten auf Morgen!

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«Morgen, so lehren die belesenen Professoren, wird die neue heile Gesellschaft, inspiriert von den grossen Prinzipien des ‘freien Forschens’, des Friedens und der Gleichheit, allen das gute Leben zurückerstatten…»
«Morgen, versprechen dickbäuchige Apostel, wird der Kollektivismus einem jeden ein allumfängliches Wohlbefinden verschaffen…»
«Morgen, erzählen uns gute, treue und aufrichtige Gefährten, werden wir den Generalstreik machen, die Revolution, und dann werden wir den anarchistischen Kommunismus einführen. Und von da an wird die Harmonie und das Glück unter den Sterblichen herrschen…»
Und während sie ihren Trugbildern nacheilen, verfestigen die Bosse ihre Herrschaft über die Arbeiter immer mehr; die Regierungen schmieden Ketten, unterzeichnen Allianzen und Abkommen, bereiten zukünftige Morde vor, erschiessen die Revoltierenden, erdrücken, verhöhnen und töten die Armen.
Unterdessen arbeiten die belesenen Professoren einen detaillierten, minutieusen Plan der harmonischen Stadt von Morgen aus. Währenddessen unterrichten die gelehrten Strategen der zukünftigen Revolution ihren Jünglingen, dass man auf jene und auf keine andere, der Doktrin eintgegengesetzte Weise vorzugehen hat…
- Wir werden die Revolution mit der Armee machen! Ruft ein fleissiger Theoretiker.
- Nein, wir werden sie gegen die Armee machen! Antwortet ein anderer, nicht weniger fleissiger Theoretiker.
- Wir werden die Revolution mit Hilfe der Offiziere machen, verdeutlicht ein dritter.
- Nein, verkŸndigt noch ein anderer, wir werden die Revolution mit den Soldaten gegen die Offiziere machen…

Währenddessen werden sie von der Armee tagtäglich mit Gewehren und Mitrailletten bedroht. Die Armee bereitet sich vielleicht gerade darauf vor, sie auf neue Schlachtfelder zu schieben. Sie nimmt ihnen die besten, die jüngsten Kräfte ab, bedient sich daran und verdirbt sie. Sie entreisst einem jeden von ihnen 24 Monate des Lebens… Würden sie nicht besser daran tun, weniger darüber zu sinnieren sich ihrer zu bedienen und stattdessen aufhöhren ihr zu dienen? Wären sie nicht viel konsequenter, würden sie, jene, die die Armee abschaffen wollen, damit beginnen, ihren Dienst zu verweigern?
Doch da befindet sich das Trugbild, dort am Horizont. Für die ideale Stadt von Morgen akkzeptieren unsere Revolutionäre die schmutzige Stadt von Heute. Für das idyllische Leben einer Zukunft, die sie nicht kennen werden, passen sie sich an die erbärmliche Gegenwart an.

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Nach der religiösen Illusion, nach der reformistischen Illusion, die Revolutionäre Illusion. Im Grunde ist es der ewige Neubeginn desselben Abenteuers: Der Traum steht über der Handlung, der Traum ersetzt die Revolte und das Heute wird für ein Morgen verspielt.
Lassen wir nicht davon ab es zu wiederhohlen. Lassen wir keine Gelegenheit ungenutzt, um den Schwindel dieser Trugbilder zu enthüllen und diejenigen unter uns, die sich noch immer betören lassen, daran zu erinnern, dass der Tod Gottes die Paradiese in Rauch aufgehen liess.
Es sind es nicht allzu viele von all unseren Energien, die dazu aufgewendet werden, die Gegenwart etwas zu verschönern. Die unmittelbaren Revolten erfordern dringend all unsere Kräfte; wir haben weder die Musse noch die Mittel, um sie im Hinblick auf weit entfernte – und sehr hypothetische – Revolten zu vergeuden.
Das Leben, das gesamte Leben, liegt in der Gegenwart. Warten bedeutet es zu verlieren. Auf Morgen warten um frei zu sein, um die Existenz zu geniessen, um sich leben zu spüren? Wir machen dieses Spiel nicht länger mit. Die Zeit, die durch das Warten verstreicht, ist unwiederruflich verloren, und wir legen Wert darauf, nichts von dem Leben zu verlieren. Die schöne Revolte vervollständigt das Denken oder den Traum durch die unmittelbare Handlung. Der Rest ist blosses Geschwätz… oder Verfolgung von Trugbildern.

Le Retif
l’anarchie, nr. 309, 9. März 1911

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